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Zeichnen ohne Nachzudenken – Zu den Reisebüchern von Annette Korolnik


Text: Peter Erismann

Aus dem Katalog „Reisebücher"

Seit vielen Jahren verfolgt Annette Korolnik beharrlich und mit bewundernswerter Konsequenz ihren Weg als Künstlerin. Unbeirrt von Trends und anderen Einflüssen hat sie ihre malerische Sprache auf das Wesentliche reduziert und so zu einem persönlichen Stil gefunden. Ein Schwergewicht bilden Ölbilder und Objekte. Die fast monochromen Leinwände sind Meditationsbilder, deren malerische Qualität bei längerer Betrachtung immer mehr zum Tragen kommt. Im Kontrast dazu stehen die Objekte aus teilweise bemalten Fundstücken.

Für die neue Ausstellung in Lugano hat sich Annette Korolnik entschlossen, einen bisher für die Öffentlichkeit unbekannten Werkkomplex ihres Schaffens zu zeigen: ihre Reisebücher, die seit vielen Jahren auf ihren ausgedehnten Erkundungen entstehen. Diese Bücher sind jedoch nicht einfach Nebenarbeiten zu ihren Bildern und Objekten, sondern sie sind eigenständiger Teil ihres Wirkens als Künstlerin. Sie sind mehr als Skizzenbücher (wie sie viele bildende Künstler verwenden), obwohl ohne sie viele ihrer Bilder wahrscheinlich nicht existieren würden. Seit 1963 fertigt die Tochter einer Malerin und eines Schriftstellers Bücher an:

„Ich habe diese Bücher gemacht, wie man einen Tisch macht. Ich habe sie nicht einfach vollgeschrieben, sondern ich habe sie gemacht." (Dieter Roth).

Ich habe den Eindruck, dass Annette Korolnik ähnlich über ihre Bücher denkt, wie Roth über sein umfangreiches „Bücherwerk“ geschrieben hat. Der handwerkliche Aspekt des Objektes Buch, die sinnlich-haptische Ausstrahlung, die Beschaffenheit des Papiers, die Oberflächen der Einbände, die Bindung, der Geruch vielleicht, sind ihr bei der Wahl ihrer Bücher wichtig. Sie kauft sich kleine Hefte, Notizbücher oder sogenannte Blindbände in verschiedenen Formaten. Die Bücher werden zu ihren ständigen Begleitern. Sie zeichnet, skizziert, malt und collagiert darin ohne nachzudenken, wie sie selber sagt. Als tägliches oder kontinuierliches Ritual; den Themen verpflichtet, die sie umtreiben oder die ihr zufallen:

„Es muss nämlich gesagt werden, dass Annette Korolnik sozusagen zu ihren Bildern reist. Natürlich nicht in Form von kulturellen Expeditionen oder Sightseeing-Tours. Sondern in Form von Reisen, die zu Grenzen führen, ins Unwirtliche, Menschenleere.“ (Rainer Baginski)

In den vergangenen vier Jahren (seit ich sie kenne) heissen die Ziele ihrer Reisen Sardinien, Sizilien, Berlin, Paris, Rom, New York, China, und immer wieder: Le Maroc. Mit Marokko ist Annette Korolnik tief und eng verbunden. Sie, die das Glück hatte unter der Sonne des Tessins aufzuwachsen. Auch nach vielen, vielen Reisen fragt sie sich immer noch, warum dieses Land im Westen Nordafrikas gleichzeitig so wunderbar fremd und doch voll von Schönheit ist. Nach Marokko wollte sie sich auch schon zurückziehen, nach Zagora, in ein Haus am Rande der Wüste. (Ich bin froh, dass sie es nicht gemacht hat.) Und in Marokko hat sie nicht nur Kunst und Bücher gemacht, sondern viele Jahre auch die Teppich- und Textilkultur der Berber erforscht, dazu Ausstellungen konzipiert und Publikationen herausgebracht. Annette Korolnik ist eine Künstlerin mit vielen Interessen und ebenso vielen Fähigkeiten.

Nochmals die Bücher: in über fünfzig Jahren ist eine eigentliche Bibliothek entstanden. Die Liste umfasst über siebzig Exemplare, mehr als ein Buch pro Jahr. Sie tragen Titel von zum Teil geheimnisvollen Orten, den Wegmarken der Künstlerin: Juist, Berzona, Kasbek, Fex-Tal, Venedig, Zürich, Stromboli, Jemen, Irland-Stein, Essaouira, Tafraut, Rabat, Zagora, Imin Tatelt, Imilchil, Berlin, Trarego. Aber auch existenzielle Themen führen zu Titeln: Ecce Homo, Erotica, Nacht- und Todesbuch, Bilder ohne Gott.

Jede Bibliothek ist ohne Ende, wie Borges schrieb. Die Bibliothek von Annette Korolnik ist die Summa ihrer Recherchen als Künstlerin. In der Bibliothek kommt alles in konzentrierter Form zusammen, was eine künstlerische Existenz ausmacht: Zuversicht und Zweifel, Humor und Ernsthaftigkeit. Die Leuchtkraft ihrer Bilder, deren grosse Intensität, deren hohe Potenz: sie sind auch in den Reisebüchern offensichtlich – es ist an der Zeit geworden, dass wir sie nun in einer Publikation und in einer Ausstellung sehen dürfen.


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